Neben den eingangs skizzierten polaren Positionen ist Kunst zu jedem Zeitpunkt eine Gemengelage von gesellschaftlichen Forderungen, inhaltlichen Vorstellungen, technischen Möglichkeiten, formalen Entwicklungen, philosophischen Positionen und wirtschaftlichen Verwertungsmöglichkeiten. In diesem Feld muss der Künstler entscheiden was wo und wie als Entwicklungsansatz taugt; er ist tatsächlich in dieser Hinsicht frei und er geht dann in der Regel dahin wo das Brot herkommt.

Hinsichtlich der gesellschaftlichen Relevanz scheint es sinnvoll die Kunst mit der Mathematik zu vergleichen. Die Mathematik ist an keine Inhaltlichkeit gebunden, es ist eine rein formale Methode Aussagen auf der Grundlage von Axiomen zu formulieren. Die Anwendbarkeit der mathematischen Modelle auf die physikalische Wirklichkeit ist nicht implizit sondern analog. Aussagen können gleichzeitig für den Vogelflug und das Abstimmungsverhalten von Gesellschaften gelten.
Bespielsweise ist die Normalverteilung ein rein formales mathematisches Modell und ist doch gleichzeitig auf Intelligenz oder Delinquenz anwendbar.
In der Übertragung dieses Analogie-Modells auf das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft hat beispielsweise die formale Entwicklung der Collage – also die Verwendung von visuellen Splittern aus völlig unterschiedlichen anderen Medien – ein greifbares Bild für die Vielschichtig- und Widersprüchlichkeit für die Zeit nach dem ersten Weltkrieg geschaffen.
Kunst kann, der Realität vorgreifend, Bilder schaffen, die als Matrix dienen für Vorstellungen, die sich erst nachträglich zeigen. Dies hat einfache Gründe, denn die künstlerische Arbeit ist immer auch Spielwiese und Experimentierfeld. Es wird im Grunde eine Vielfalt von unterschiedlichen Ausdrucks-, Anwendungs- sowie Lösungsmöglichkeiten entfaltet und die Gesellschaft entscheidet zum gegebenen Zeitpunkt was sie davon übernehmen will.

Vor der Industrialisierung war Kunst immer mit einer Form der Kunstfertigkeit verbunden. In den meisten Fällen lag diese Kunstfertigkeit bei den ausführenden Kunsthandwerkern, aber sie wurde dem Künstler (als dem Projektleiter) zugeschrieben.
Spätestens seit dem Beginn des 20.Jh., ist die Kunstfertigkeit nur noch ein Aspekt von vielen und hat häufig gar keine Bedeutung mehr. Um nur ein paar Kunstrichtungen zu nennen, für die Kunstfertigkeit bestenfalls zweitrangig ist:

  • Collage
  • Readymade
  • Art Povera
  • Pop-Art
  • Minimalismus
  • Landart
  • Soziale Plastik
  • Politische Kunst aller denkbaren Couleurs

◄ Kurt Schwitters; Uviolett 1926

Oberflächlich betrachtet scheint Kunst, die sich an unmittelbaren Themen orientiert, als Kunstwerk von relativ größerer Wichtigkeit. Ihr Problem ist allerdings, dass hier „Kunst“ auf schieres Mittel zum Zweck reduziert wird. Das Ergebnis der Untersuchung des künstlerischen Gegenstandes liegt von vorne hinein fest, weil das Ergebnis ja nun der Anlass für die künstlerische Äußerung als solche ist. – Eigentlich nennt man diesen Vorgang „Agitprop“. – Neben einer Vielzahl von erdrückenden Entgleisungen, ist es selbstverständlich keine Frage: Kunstwerke können auch in diesem Zusammenhang epochemachend wirksam sein. John Heartfields Collagen sind zweifelsfrei Ikonen.

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