So sehr wie in der Mathematik vollzogen werden kann was möglich ist – immer im Rahmen der gesetzten Axiome, gilt es in der Kunst Gesetze und Regeln zu bestimmen und ihnen dann zu folgen. Die Setzung dieser Regeln ist Teil des künstlerischen Prozesses und kann für ein anderes Werk geändert oder erweitert werden. (Hier ist selbstredend der Belanglosigkeit Tür und Tor geöffnet)

Ein sehr strenger Satz solcher Regeln ist beispielsweise:

  • Ein Körper wird räumlich mit nur einer einzigen kontinuierlichen Linie aus Bandstahl nachgebildet.
  • Die Linie folgt in jedem Fall des Oberfläche des Körpers.
  • Es sind nur Bandverformungen zulässig die sich unmittelbar aus dem Material ergeben.
  • Das räumliche Volumen des Körpers soll aus jedem Bildwinkel erfahrbar sein.
  • Die Wesenhaftigkeit des Vorbildes soll in seinem Charakter zutage treten.

Kurioserweise sind Regeln nicht so statisch wie sie formuliert werden. Fast scheint es, als würde die Regelverletzung ein zu erwartendes Element der Regel zu sein. Durch Regeln wird ein Verhaltens- oder Handlungsrahmen beschrieben. Ob diese nun explizit formuliert werden oder intuitiv gehandhabt werden ist hierbei recht unwichtig. Es scheint aber fast so, als würde es im Wesen von Regelwerken liegen, dass man sich als Anwender von Regeln notorisch an die Grenzen des eben noch Zulässigen bewegt. Bei sozialen Regeln mag es vielleicht noch mit dem Widerstand gegen Fremdbestimmtheit begründbar sein. Bei selbstgesetzten Regeln (wie dies im Gestaltungsprozess passiert) scheint dieser Hang zur Grenzverletzung zunächst völlig widersinnig, trotzdem ist die Neigung zur Regelverletzung die gleiche. Wird nun eine Regel häufig genug verletzt, so entsteht dadurch eine neue Regel mit neuen Konsequenzen für das Gesamtsystem.
Die gewagte These ist nun, dass Regelverletzungen notwendiger Teil des Verhaltensrepertoires sind um den Bezug zur Realität permanent nachzujustieren.
Die stehende Gegenthese wäre, dass die kreative Anstrengung geringer ist wenn der Regelapparat weiter gefasst ist, die Regelverletzung wäre demnach nur ein Versuch die Enthropie zu steigern.

Die gegenstandsfreie Kunst:

Diese Kunstrichtung ist in der westlichen Welt maßgeblich ein Kind des 20.Jahrhunderts. In außereuropäischen Kulturräumen, bedingt z.B. durch religiöse Darstellungverbote im Orient oder geprägt durch fernöstliche Philosophien, gibt es gegenstandsfreie Kunstwerke in großem Umfang durch alle Jahrhunderte.
In den inhaltsbetonten Denkstrukturen des Westens war die Idee, dass ein Werk nur für sich selbst steht, durchaus revolutionär.
Auch in diesem Themenfeld gilt aber uneingeschränkt, dass die Definition der Regeln teil des künstlerischen Prozesses ist.
(So ganz nebenbei formuliert sich hier eine offensichtliche Verknüpfung zur gegenwärtigen Diskussion um KI-Kunst: Die künstliche-Intelligenz-Bildgeneratoren werden nur noch über „Prompts“ gesteuert. „Prompts“ sind jene Eingaben oder Befehlssätze die KI-Software wie „Midjourney“ vom „Prompt-Artist“ erhält.)

Die Frage des Inhalts ist in gegenstandsfreien Kunst theoretisch einfach geregelt, denn das Werk verweist auf nichts außer auf sich selbst. Ein Stein ist ein Stein und nichts sonst.
Leider allerdings, wird hier die Tür von hinten eingetreten, denn der menschliche Geist ist notwendigerweise darauf trainiert Zusammenhänge und Bedeutung zu erkennen. Dies passiert natürlich auch wo gar kein Zusammenhang da ist: entsprechend der immer gültigen Prämisse, dass wenn es gar nix ist, dann ist es wenigstens ein Phallus.

◄ Marmor Phallus
Dønna, Nordland, Norwegen 4th – 6th Jh.


© Jensens, Public domain, via Wikimedia Commons

Die gültigen Ansätze sind z.B. Materialgerechtigkeit, Formulierungen wie „Offen vs. Geschlossen“, gestische Bewegungen aus Meditationsversuchen, Phänomene der Bewegung oder Beschreibungen wie „Stabil und Labil“.
Dies klingt nun zunächst fast ein wenig trivial, betrachtet man aber Werke von – beispielsweise – Alexander Calder oder Eduardo Chillida, ist die Wirkungsmacht dieser Ansätze unverkennbar.

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