Von der Betrachtung:
Die Betrachtung von Kunst ist wohl das facettenreichste Thema, weil hier nun alle Akteure miteinander umgehen. Von Seiten des Künstlers gibt es hier häufig eine Schutzbehauptung, die natürlich nur sehr bedingt greift: Das Publikum ist mir egal – ich arbeite nur für mich. Zunächst ist diese Aussage wie ein vorbeugender Wundverband für die Erkenntnis der eigenen gesellschaftlichen Belanglosigkeit. Es ist aber auch ein Schutz für Forderungen in dieser oder jener Art zu sein wie zum Beispiel: Mal‘ doch freundlichere Bilder, dann schauen die Leute dein Zeug auch an.
Es gibt allerdings durchaus auch sehr ausgeprägt innen-geleitete Persönlichkeiten, denen der Rest der Welt recht egal ist – Das Bild des englischen Adeligen als verschrobener Naturforscher gilt hier exemplarisch. In der Regel gibt es, schon aus ökonomischen Gründen, ein vitales Interesse von den anderen gesehen zu werden.
Hier wiederum kommt der Betrachter ins Spiel und seine Motive sind vielfältig:

  • Kunst als Handelsware zu sehen ist (von der Tätigkeit weniger Spezialisten abgesehen) ziemlich freudlos.
  • Sich für Kunst zu interessieren um damit die eigenen soziale Position zu formulieren mag funktionieren, aber ich habe diesbezüglich keine Erfahrung.
  • Sicher gibt es ein dekoratives Interesse. Nach meinem Dafürhalten ist dies absolut legitim. Ein hübscher Blumenstrauß ist Balsam für die Seele.
  • Letztendlich hat ein Kunstwerk immer auch eine erkenntnistheoretische Dimension, es ist ein Stück praktische Philosophie und kann hier ein Betrachtungsvergnügen liefern, weil es wie ein Zahnrad in ein Weltbild passt oder, mit gleichem Recht, wie ein Stachel gegen die gesetzte Wahrnehmung läuft. Alles was seelisch bewegt ist hier wichtig und richtig.
  • Ein Kunstwerk ist im besten Falle ein Objekt das zur Bestimmung des eigenen Sein in der Welt taugt. Dies klingt zunächst etwas „hochgestochen“ und doch sind wir zu jedem Zeitpunkt mit der Frage konfrontiert, wer wir sind und was wir tun.

Nun kommt das große Missverständnis:
Das Ergebnis dieser Betrachtung ist nicht notwendigerweise das was der Künstler in das Werk gelegt hat, sondern es ist das, was der Betrachter liest. Es mag sein dass die Leseform dem Handlungsimpuls des Produzenten entspricht, aber dies ist nicht zwangsläufig so.
Die Schaffung eines Kunstwerkes und die Rezeption eines Kunstwerkes sind zwei Prozesse, die sich auf das gleiche Objekt beziehen, aber nur in einem allgemeinen gesellschaftlichen Kontext miteinander verbunden sind.
Ein chinesischer Betrachter der Gegenwart liest aus einem barocken Blumenstrauß holländischer Provenienz etwas ganz anderes als der Macher intendiert hat. Trotzdem kann für den gedachten chinesischen Betrachter der Blumenstrauß von großer Bedeutung sein. Je ähnlicher der kulturelle, der soziale und historische Kontext, desto höher ist die Chance dass Macher und Betrachter ein ähnliches Verständnis haben. Mehr nicht!
Es klingt trivial: Kunst ist keine Kommunikation – dies gilt nicht für Agitprop.
Die Grundvoraussetzung für Kommunikation ist ein Kommunikationsmedium über dessen Einzelzeichen zwischen den Kommunikanten hinsichtlich ihrer Bedeutung hinreichend Einigkeit besteht. Neben diesen Begrifflichkeiten ist eine akzeptierte Syntax von grundliegender Bedeutung. Ohne diese Voraussetzungen ist Kommunikation im strengen Sinne nicht möglich.
Diese Voraussetzungen erfüllt Kunst nicht. Ganz im Gegenteil besteht Künstler (der Emmitent der Botschaft) darauf, seinen eigenen begrifflichen Kontext zu schaffen.
Im weitesten Sinne scheinen also die Herstellung von Kunst und die Rezeption von Kunstwerken zwei unabhängig voneinander verlaufende Prozesse zu sein.
Nun ist die Eindeutigkeit der Begriffe und der Grammatik nur ein Theorem und der Umgang zwischen Kommunizierenden liefert durchaus Verständigung, ohne das diese Eindeutigkeit gegeben ist. Jede Reise in ein Land, dessen Sprache man nicht mächtig ist, liefert den schlagenden Beweis – dies gilt in beiderlei Hinsicht.
Ein Kunstwerk liefert durch seine Konkretheit immer eine Vielzahl von Zugängen. Um bei dem vorgenannten Beispiel mit dem Bandstahlobjekt zu bleiben:

  • Ein Techniker sieht was für große Kräfte notwendig sind den Stahl zu formen (ca. 80 Tonnen Druck) – das kann sein Zugang sein.
  • Die spiegelnde Oberfläche reflektiert die Umgebung und man könnte mit den wandernden Lichtreflexen die impulsiv Interaktion von Objekt und Raum als Ansatz wählen.
  • Die Geste der Figur könnte die Brücke zu bekannten Personen bilden.
  • Der Blick auf die gewundene Oberfläche zeigt das eigene gedehnte Abbild und man könnte, mit jedem Recht, die Selbstbetrachtung als Ansatz wählen.
  • Man könnte auch ein erkenntnistheoretisches Phänomen wahrnehmen: Vorne und Hinten einer Figur ist gleichzeitig zu sehen. Der Raum ist transparent und in seiner Begrenzung erfahrbar. Dies ist ein geradezu paradoxer Zustand.
  • Nicht zuletzt könnte jemand, der sich mit den sog. neuen Medien auskennt, verstehen, dass hier ein Gittermodell in eine eigenständige Form umgesetzt wurde.

Der Betrachter wählt einen oder mehrere dieser Zugänge und schafft sich seine eigene Bedeutungswelt. Hier liegt im Erfolgsfall die Bedeutung des Kunstwerkes für den Rezipienten.

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